Orient im Okzident, Okzident im Orient
„Dieses Baumes Blatt, der von Osten / Meinem Garten anvertraut,“ mit diesen Worten beginnt Goethes Gedicht „Ginkgo biloba“ im West-östlichen Divan, in dem es weiter heißt: „Giebt geheimen Sinn zu kosten, / Wie’s den Wissenden erbaut.“ Das Ginkgo-Blatt dient dem Dichter hier als Symbol dafür, dass Orient und Okzident sowohl Universalität als auch Diversität gleichzeitig in sich tragen können, was im Gedicht dann auf folgende Weise verdeutlicht wird: „Ist es Ein lebendig Wesen? / Das sich in sich selbst getrennt, / Sind es zwey? die sich erlesen, / Daß man sie als Eines kennt.“
Einem heutigen Leser, dem die vielfach problematisierte Asymmetrie des historisch konstruierten „Orientalismus“ (E. W. Said) und „Okzidentalismus“ (I. Buruma und A. Margalit) bekannt ist, mag die goethesche Vorstellung einer idealen Koexistenz zweier Kulturkreise, zumindest auf den ersten Blick, immer noch als wenig realistisch erscheinen. Die bewußte Gegenüberstellung von Orient und Okzident hat vor allem seit der „Entdeckung des Ostens“ im 17. und 18. Jh. in der Ideengeschichte Europas nicht nur kulturell, sondern auch politisch und im Hinblick auf die Religion eine relevante Rolle gespielt, und ein mehr oder weniger unausgewogenes Selbst- und Fremdbild evoziert: Dabei wird das Wort „Okzident“ fast immer als ein Synonym für die europäischen Länder, bzw. den „Westen“ verstanden, während das Wort „Orient“ laut DUDEN zwar früher durchaus den „Osten“ bezeichnete, in seiner heutigen Bedeutung hingegen ganz auf die vorder- und mittelasiatischen Länder eingeschränkt ist.
Was die hier avisierte Tagung in Kyoto betrifft, so ist in ihrem Kontext jedoch der Terminus „Orient“ im weitesten Sinne zu verstehen, d. h. im Sinne des gesamten, von Europa aus gesehen, geographischen „Ostens“. Beispiele dafür gibt es genug: So haben Franziskaner und Jesuiten die östlichen, d. h. orientalischen heidnischen Völker zu missionieren und ihnen das Christentum als die einzig wahre Religion zu vermitteln versucht. Hegel führte in seiner Vorlesung über die Geschichte der Philosophie mit Blick auf den Orient dezidiert aus, dass dort „kein philosophisches Erkennen stattfinden kann“. Noch viel zugespitzter ist Rudyard Kiplings berühmtes und folgenreiches Diktum: „East is East, and West is West, and never the twain shall meet“.
Goethe seinerseits hat dann das eingangs zitierte Gedicht wie folgt fortgesetzt: „Solche Frage zu erwidern / Fand ich wohl den rechten Sinn; / Fühlst du nicht an meinen Liedern / Daß ich Eins und doppelt bin?“ Das vom Dichter angesprochene doppelte Sein ist aber eher als eine Hoffnung oder Herausforderung zu verstehen. Die Tagung in Kyoto soll darauf abzielen, die kulturgeschichtlich erwachsenen und etablierten Differenzierungen zwischen Orient und Okzident faktisch ins Auge zu fassen, sie zu benennen und zu diskutieren. Ihr Generalthema orientiert sich vor allem an einer kritischen Xenologie, bei der ganz verschienene Erscheinungsformen von Fremdheit zwischen Orient und Okzident, wie sie sich im direkten oder technisch vermittelten sprachlichen Kontakt, in literarischen Texten oder in visuellen Medien wie Film oder Fernsehserien äußern, untersucht werden sollen. Die daraus resultierenden Probleme, wie z. B. die Frage, wie und wo in den kulturell geprägten Formen der Repräsentation von „Orient“ und „Okzident“ die Grenze zwischen „Ost“ und „West“ bzw. „fremd“ und „eigen“ gezogen werden kann, und welche Distanz und gegenseitige Anerkennung zwischen beiden Kulturkreisen herrscht, sollen einer eingehenden Analyse unterzogen und zur Diskussion gestellt werden.
Auf der anderen Seite einer solchen die west-östlichen Kulturunterschiede
in den Blick fassenden Herangehensweise lässt sich beobachten, wie die
moderne Welt durch die von den westlichen Ländern ausgegangene Globalisierung
immer mehr ihre kulturelle Mannigfaltigkeit verliert und immer uniformer
wird. Bei dieser Angleichung verschiedener Kulturen aneinander ist die
weltweite Verbreitung der modernen Technologie ein wichtiger Aspekt. Die
militärische, medizinische und technologische Überlegenheit war ein entscheidender
Faktor dafür gewesen, dass der „Westen“ im 19. Jh. zur Weltmacht werden
konnte. In diesen Kontext gehört auch die rasante und unaufhaltsame Entwicklung
der Informatik und die Entstehung der Cyber-Welt in den letzten Jahrzehnten.
Der von einer solchen Hochtechnologie bestimmte Charakter unserer Zivilisation
ist bis heute der wesentliche Impetus der Moderne geblieben – mit negativen
Folgen wie ganz aktuell z.B. der nuklearen Katastrophe in Fukushima. Die
kommende GiG-Konferenz in Kyoto wird ihre Schwerpunkte voraussichtlich
auf folgende drei Themenbereiche legen: In den Sektionen 1 und 2 ließe
sich z. B. darüber nachdenken und diskutieren, wie Orient und Okzident
einander im bisherigen Verlauf der Geschichte widergespiegelt haben und
jetzt widerspiegeln. Die Sektion 3 könnte sich ihrerseits mit Problemen
der Technik und der modernen Techno-Wissenschaft auseinandersetzen: Ganz
unterschiedliche Themen aus diesem Umfeld fanden insbesonders nach dem
zweiten Weltkrieg Eingang in die Literatur und in die Medienlinguistik,
weshalb sich auch die Germanistik diesem Thema nicht entziehen sollte.